C. Moos: Das "andere" Risorgimento

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Titel
Das "andere" Risorgimento. Der Mailänder Demokrat Carlo Cattaneo im Schweizer Exil 1848–1869


Autor(en)
Moos, Carlo
Reihe
Zürcher Italienstudien 4
Erschienen
Münster 2020: LIT Verlag
Anzahl Seiten
VI, 574 S.
Preis
€ 59,90
von
Sebsatian De Pretto

Was unternahm Carlo Cattaneo während den zwei Jahrzehnten seines Tessiner Exils und wie beeinflusste er dabei die Geschichte des Kantons sowie diejenige der Schweiz? Diese Frage verfolgte Carlo Moos in seiner 1992 erschienen Habilitationsschrift L’«altro» Risorgimento.1 Dabei ging es ihm vor allem darum, den letzten Lebensabschnitt des streitbaren Staatsdenkers in der Schweiz der italienischen Geschichtsschreibung näher zu bringen. 28 Jahre später liegt nun die deutsche Übersetzung der Monografie vor, mit welcher Cattaneo auch der hiesigen Leserschaft bekannt werden soll. Die Neuauflage des Buches präsentiert sich allerdings nicht nur in einer anderen Sprache, sondern ist anhand kürzlich editierter Quellen nochmals gründlich überarbeitet worden (S. 4).

Nachdem Moos einleitend unterschiedliche Lesarten des Risorgimentos vorstellt und bespricht, handelt er in acht weiteren Kapiteln gleich mehrere, komplexe Fragen um Cattaneo ab. Erstens wird das staatstheoretische Denken des aus Mailand stammenden, radikal föderalistisch und basisdemokratisch ausgerichteten Cattaneos vor dem Hintergrund seiner Biographie vorgestellt. Zweitens werden dessen Überzeugungen, die angesichts des 1861 gegründeten italienischen Nationalstaats indes nie realisiert wurden, mit denjenigen seiner politischen Kontrahenten verglichen. Besonders dem wechselhaften Verhältnis Cattaneos zu Giuseppe Mazzini und Camillo Benso Cavour widmet Moos dabei tiefgründige, quellengesättigte Analysen. Drittens fragt der Autor nach dem Wirken des lombardischen Exilanten im Tessin, wo er sich nach 1848 bis zu seinem Tod von 1869 freiwillig niedergelassen hatte. Die Leserinnen und Leser erfahren somit, wie sich Cattaneo von der Schweiz aus nicht nur weiterhin politisch für Italien engagierte, sondern ebenso als Gymnasiallehrer und späterer Vordenker der Gotthardbahn im damals noch jungen Bundesstaat meinungsbildend wirkte. Schliesslich fand Cattaneo in der föderalistischen Eidgenossenschaft vielmehr eine politische Heimat als in der konstitutionellen Monarchie der Apenninhalbinsel, deren Verfassung ihn zeit seines Lebens enttäuschte.

Die Ursache, weshalb Cattaneo hinter den italienischen Staatsgründern seiner Zeit zurückstand und sich daher kaum mit seinen Ansichten durchsetzen konnte, erkennt Moos einerseits darin, dass der umtriebige Mailänder nie das öffentliche Rampenlicht suchte. Cattaneo erscheint somit rückblickend weder als ein kämpferischer Sozialrevolutionär noch als ein Befürworter der impulsiven, politischen Aktion. Vielmehr spricht aus seinen Schriften ein bedachter Idealist, der seine Mitbürger*innen über Bildung und wohlüberlegte, basisdemokratische Strukturänderungen zu einer tiefgreifenden Staatsreform hinführen wollte (S. 543–550). In den turbulenten Jahren des Risorgimentos erhielt Cattaneos daher schlussendlich keine wirkungsvolle Stimme, obschon er sich mit seinen politischen Weggefährten auf so manche hitzige Diskussion einliess (S. 550–556). Andererseits zieht Moos aber auch den Schluss, dass das von Cattaneo vertretene «andere» Risorgimento angesichts der um 1860 in Europa vorherrschenden, politischen Grosswetterlage ohnehin keine Akzeptanz gefunden hätte (S. 557).

Moos’ Buch überzeugt dank einer ausgesprochen profunden Quellenkenntnis, die von einer beeindruckenden Dokumentensammlung ausgeht. Für versierte sowie angehende Risorgimento-Forscher*innen liegt ein reichhaltiger Quellenfundus vor, der sich ideal für weiterführende Studien eignet. Ebenso begrüssenswert ist der mit Moos’ Buch einhergehende Aufruf an die derzeitige Schweizer Geschichtswissenschaft, sich im Sinne einer Verflechtungsgeschichte vermehrt mit dem südlichen Nachbar auseinanderzusetzen. Beispielsweise geht Moos in einem Unterkapitel kurz darauf ein, weshalb Cattaneo den im ausgehenden 19. Jahrhundert mitunter im Tessin verbreiteten Irredentismus ablehnte (S. 357–363); womit er eine italienisch-nationalistische Bewegung anspricht, die von der Schweizer Geschichtsschreibung bislang relativ wenig beachtet worden ist.2

Hingegen wird nirgends ein methodischer Anschluss an die derzeit umso verbreitetere, transnationale Historiographie gesucht:3 Inwiefern das Risorgimento und dessen Protagonisten Einfluss auf ihr nördliches Nachbarland ausübten und wie dieses im Gegenzug von Letzteren wahrgenommen wurde, würde hierfür eigentlich aussagekräftiges Anschauungsmaterial liefern. Leider lässt Moos aber solch theoriegeleitete Überlegungen aus. Zu bedauern ist ausserdem, dass er seiner umfangreichen Arbeit kein Literaturverzeichnis beigefügt hat. Der Forschungsstand, von dem seine Studien in den Achtzigerjahren ausgingen, erschliesst sich daher nur schwer. Überdies wurde die seit der italienischen Erstveröffentlichung erschienene Forschungsliteratur nur marginal berücksichtigt (S. 5). Ferner erschweren die zahlreichen unübersetzten, italienischen Zitate einer ausschliesslich deutschsprachigen Leserschaft wohl leider eine eingehende Lektüre. Die Quelleninterpretation liesse sich mithilfe von zusätzlichen, historischen Kontextangaben stellenweise ebenfalls einfacher nachvollziehen. Abgesehen davon bietet Moos aber aufschlussreiche Einblicke in das Leben und Wirken Cattaneos in Italien und im Tessin: Einmal mehr zeigt sich die feinmaschige, historische Verflochtenheit der Schweiz mit ihren Nachbarländern.

Anmerkungen
1 Carlo Moos, L’«altro» Risorgimento. L’ultimo Cattaneo tra Italia e Svizzera, Milano 1992.
2 Ferdinando Crespi, Ticino irredento. La frontiera contesa: dalla battaglia culturale dell’«Adula» ai piani d’invasione, Milano 2004.
3 Nathalie Büsser, u. a. (Hg.), Transnationale Geschichte der Schweiz. Histoire transnationale de la Suisse, Zürich 2020.

Zitierweise:
De Pretto, Sebsatian: Rezension zu: Moos, Carlo: Das «andere» Risorgimento. Der Mailänder Demokrat Carlo Cattaneo im Schweizer Exil 1848–1869, Zürich 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (2), 2021, S. 370-372. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00088>..

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